Esskultur

Liebes pädagogisches Tagesbuch,
heute haben wir im Seminar über Ernährung geredet. „Man soll den Kindern vermitteln, dass Nahrung etwas Kostbares ist und deshalb aufgegessen werden muss“, erklärte eine eher korpulente Teilnehmerin. Ihr habe man das früher auch beigebracht, und geschadet habe es ihr ja wohl nicht.

Irritiert taxierte ich ihre Körpermaße, räusperte mich, legte das Wertschätzungs-Timbre in meine Stimme und sagte: „Danke, Hedda, für deinen Betrag. Was meinen die anderen dazu?“

Wenigstens probieren lassen müsse man die Kinder, forderte eine dünne Frau. Viele Kinder äßen sonst nur die Speisenbestandteile, die sie lecker finden, ließen das Gesunde liegen und erführen deshalb nicht, wie es schmeckt. Ich brachte ein, dass diese Regel auch im Kindergarten meiner Tochter galt: Niemand isst Marmeladenbrot, ohne vorher nicht wenigstens eine Scheibe Lidl-Salami auf sein Stüllchen gelegt zu haben. Denn: Gesund bleibt man, wenn man das isst, was die Erzieherin sagt.

Es sei so wichtig, den Kindern den Wert einer Mahlzeit zu vermitteln, beschwor uns eine weitere Teilnehmerin, weil das zu Hause keiner mehr macht. Dort muss das Essen mit den Zähnen direkt vom rotierenden Teller der Mikrowelle geschnappt werden, damit es auf dem Weg zum Fernseher verschlungen werden kann. Andernorts wird es schon per Tablet heruntergeladen und virtuell verspeist. Nur im Kindergarten können die Kleinen noch erleben, dass Mahlzeiten ein Genuss sind, eine Zeit der Gemeinsamkeit, der sinnvollen Tischgespräche – statt einfach so durcheinander zu quasseln, zu kippeln und mit dem Essen zu spielen. Nur im Kindergarten lernen die bedauernswerten Sprösslinge heutiger Eltern noch, dass man Messer und Gabel schon im frühkindlichen Alter korrekt benutzt, dass man einander mittels gepflegter Tischmanieren Wertschätzung erweist, fein „bitte“ und „danke“ sagt.

Nur eine Kollegin schwieg ausdauernd, wies aber plötzlich auf die Uhr: Mittagszeit!
Im Nu klappten alle ihre Brotbüchsen auf, bissen in Wurststullen, rissen Joghurts mit der Ecke auf, öffneten Tupperboxen mit Nudelsalat vom Vortag und reichten Schoko-Toffee-Tüten herum. Manche standen auf, manche kippelten, und wir quatschten mit vollen Mündern darüber, wie schön es doch ist, Vermittler einer wiederentdeckten Esskultur zu sein.

Achim Kniefel führt seit frühen Kindheitstagen Tagebuch.

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