Geschichten- Schreiberinnen

Mit diesem Beitrag wird die Serie fortgesetzt, in der wir – in Kooperation mit der GEW und um die Kampagne „Für ein besseres EGO“ zu unterstützen – Pädagoginnen porträtieren, über ihre Arbeit, ihre Kompetenzen und ihr Engagement berichten. Mehr über die Kampagne erfahrt ihr hier. Diesmal stellt wamiki die Erzieherinnen Daniela Bördner und Clarissa Körner-Bertele aus dem Münchner Kinderhaus Felicitas-Füss-Straße vor.

 

Im Atelier des Kinderhauses sind vier Zweijährige zugange und tippeln von Staffelei zu Staffelei. Zwei Farben stehen bereit: Grün und Gelb. Damit malen sie sich nicht etwa die Nasen an, sondern setzen ihre Pinselstriche überlegt aufs Blatt, tun das auch zu zweit, kommen einander aber nicht ins Gehege. Es entstehen Bilder in Grün-Gelb, während sanfte Musik durch den Raum weht. Die Kinderpflegerin Pinar Camur (27) steht in Reichweite, guckt zu, wäscht mal einen Pinsel aus …

Ein kleines Mädchen, vielleicht 18 Monate alt, sitzt im Sportwagen dabei. Es wird gerade eingewöhnt und ist Pinars Bezugskind. Zwar sieht es, was die anderen vier Kinder tun, aber meist folgen seine Augen Pinar. Deren Nähe ist der Kleinen wichtig. Ist das eine Lerngeschichte? Nein. Was also sind Lerngeschichten?

Die Vorgeschichte der Lerngeschichten

Seit mehr als zehn Jahren schreiben Daniela Bördner (45), Clarissa Körner-Bertele (46) und ihre Kolleginnen Lerngeschichten. „Wir hatten nach Kuno Bellers Entwicklungstabelle gearbeitet und tun das auch heute noch. Doch diese umfassende Tabelle kann man nur ein bis zwei Mal im Jahr für jedes Kind anwenden. Deshalb suchten wir nach einer Dokumentationsart, die sie ergänzen könnte, um die Entwicklungswege der Kinder besser zu verstehen“, erklärt Clarissa. „Eines Tages erzählte Edeltraud Prokop, unsere Leiterin, von den Lerngeschichten aus Neuseeland. Wir fanden: Sie könnten eine gute Ergänzung sein, weil wir solche Geschichten täglich schreiben könnten. Also probierten wir diese Methode aus.“

Im Laufe der Zeit stellten die Frauen fest: Bildungs- und Lerngeschichten helfen ihnen, im Alltag aufmerksam für die Spielsituationen der Kinder zu bleiben, für die vielen Interaktions- und Konstruktionsprozesse, die dabei ablaufen. Sie merkten, dass sie mehr über die Kinder lernen, deren Stärken genauer erkennen, Inputs gezielter geben können. Und sie begriffen, was das Wort „Lernumgebung“ wirklich bedeutet. Eine anregende Umgebung nämlich, in der Kinder immer wieder Lust haben, etwas zu tun, das Erwachsene beobachten können, um ihre Schlüsse daraus zu ziehen. Das heißt, Lerngeschichten haben eine Vorgeschichte: die Auseinandersetzung des Teams mit Ergebnissen der Lernforschung, um die Methode tatsächlich sinnvoll anwenden zu können. Verlangt ein Träger, dass ab morgen Lerngeschichten geschrieben werden, kommt lediglich etwas fürs Poesiealbum heraus.

Eine Geschichte für Loris

Nach und nach veränderte sich die Form der Lerngeschichten im Kinderhaus. Erst waren es sachliche Beschreibungen dessen, was die Erzieherinnen bei den Kindern wahrnahmen. Dann wurden die Texte persönlicher. Schließlich entschied man im Team: Wir nehmen die Briefform. Daniela liest ein Beispiel vor: „Lieber Loris, ich war heute im Garten, und du bist rausgekommen. Du hattest deine Regenhosen und Gummistiefel an, hast zu mir herübergeschaut und bist langsam losgelaufen, weil du noch ein bisschen unsicher bist. Ich habe gesehen, wie du vorsichtig eine Stufe hinuntergestiegen und auf die Wiese gegangen bist. Dann wolltest du auf den Hügel. Das fiel dir schwer. Ab und zu bist du hingefallen, hast dich ganz allein aufgerappelt, ohne dich zu beschweren. Als du oben warst, hast du gelächelt. Plötzlich hast du Kinder gesehen, die vom Hügel hinunterrutschten. Neugierig bist du zur Rutsche gelaufen und hast zugeschaut.“

Du hattest deine Regenhosen und Gummistiefel an, hast zu mir herübergeschaut und bist losgelaufen…

Diese Geschichte steckt in der Mappe von Loris. „Wie alle anderen Geschichten bezieht sie sich auf fünf Lerndispositionen, von denen wir ausgehen: Ein lernender Mensch ist interessiert, engagiert, kann sich mitteilen, nimmt Herausforderungen an und ist Teil der Lerngemeinschaft“, erklärt Clarissa. „Die Mappen stehen in Höhe der Kinder, sie können sie jederzeit holen und anschauen oder mit nach Hause nehmen, können uns fragen, ob wir die Texte vorlesen, oder sie erzählen einander die Geschichten. Vor allem aber merken sie anhand der Geschichten, dass wir sie sehen. Sie werden gesehen.“ Den letzten Satz betont Clarissa.

Gesehen werden

Es ist interessant, was die Kinder machen. Deshalb gucken die Erzieherinnen hin. Und es ist gut so, wie die Kinder es machen. Es ist würdig, betrachtet zu werden. „Die Kinder sind würdig, betrachtet zu werden“, sagt Clarissa.

„In einem solchen Moment beginnt eine Beziehung“, erklärt Daniela. „Die Beziehung des Kindes zu mir und meine zu ihm. In Laufe der Zeit wird sie intensiver. Das verändert meine Einstellung zum Kind und die des Kindes zu mir. Das Kind merkt: Daniela sieht mich, und ich sehe, dass sie mich sieht. Es ist berührend, wie die Kinder auf uns zugehen, wenn sie erkennen: Ich werde gesehen. Für Erwachsene gilt das ebenso. Ich freue mich, wenn ich morgens von einem Kind begrüßt werde. Daran spüre ich, dass es mich schätzt.“

Noch nie hat jemand das so ausgedrückt wie Daniela. Vielmehr hört oder liest man ständig: Wir Erwachsene zeigen dem Kind unsere Wertschätzung – sozusagen von oben herab, weil wir Erwachsene sowieso etwas wert sind, denn wir sind erwachsen und noch dazu Erzieherinnen. Dass eine Beziehung sich nur im Aufeinander-bezogen- Sein zweier Menschen ergibt, merken wir erst, wenn Beziehungen scheitern.

Aber zurück zu den Lerngeschichten. „Ist die Mappe eines Kindes voll, werden die Seiten mit den Lerngeschichten auf eine Schnur gefädelt. Nur ein kleiner Rest bleibt in der Mappe, damit das Kind etwas zum Anschauen hat, bis die Mappe wieder voll ist“, sagt Clarissa. „Kommt es zur Schule, nimmt es die Mappe mit nach Hause.“

Sich erinnern

In den Lerngeschichten – Briefe, also keine Formulare oder Formblätter – steckt quasi die Essenz einer Beziehung. Und sie dokumentieren die Entwicklungswege
der Kinder. „Das macht die Kinderstolz“, sagt Clarissa. „Wenn sie sich die Geschichten und die Fotos dazu anschauen, sehen sie: Da bin ich auf einen Hügel geklettert und habe mich getraut, hinunterzurutschen. Auf den nächsten Seiten sehen sie: Da war ich beim Kuchenbacken, dort im Museum, und dieses Puzzle habe ich zusammengebaut. Sie sehen, was sie gelernt haben, wie sie es gelernt haben …“, und können sich ihres Geworden-Seins noch erinnern, wenn sie dermaleinst selbst Kinder haben.

„Ich glaube, Kinder können überhaupt nur lernen, wenn sie wertgeschätzt werden“, sagt Clarissa, „sonst hören sie auf.“ Das tun sie nicht, sie lernen immer. Fröhlicher, leichter und besser geht es in einer anregenden Lernumgebung und begleitet von Erzieherinnen wie Clarissa oder Daniela. Erleben Kinder, dass sie nicht gesehen und geachtet werden, lernen sie auch. Nämlich, dass man sie nicht schätzt. Sie lernen, sich zurückzuziehen, sich zu ducken und zu tun, was die Erwachsenen wollen, damit die sie vielleicht eines Tages doch schätzen.

Die Eltern

„Auch bei den Eltern lösen die Lerngeschichten etwas aus“, sagt Clarissa. „Merken sie, dass wir ihre Kinder sehen, sind sie glücklich und zufrieden, achten unsere Arbeit und kommen uns offen entgegen. Manche Eltern schreiben sogar selbst Lerngeschichten für ihre Kinder.“ Lesen sie die Lerngeschichten, sehen die Eltern ihre Kinder eventuell mit anderen Augen. Sie merken: Mein Kind ist wirklich etwas Besonderes. Was habe ich nicht für ein wunderbares Kind auf die Welt gebracht!

„Stimmt“, sagt Daniela. „Bringt eine Mutter ihr kleines Kind zu uns, fürchtet sie anfangs vielleicht, dass es übersehen wird, und ist beruhigt, wenn sie feststellt, dass das nicht so ist. Die Geschichten machen ihr deutlich: Kinder, Eltern und das Team – wir arbeiten zusammen, wir haben etwas Gemeinsames.“

Der Gewinn

Gefragt, was die Lerngeschichten den Erzieherinnen bedeuten, sagt Daniela: „Durch das Schreiben habe ich plötzlich mehr gesehen. Meine Wahrnehmung wurde viel intensiver. Aber was mich letztlich vollends von den Lerngeschichten überzeugt hat, das war die Begegnung mit den Neuseeländerinnen.“

2010 und 2012 waren Clarissa und Daniela in München und in Frankfurt am Main auf Fachtagen und nahmen an Workshops der Neuseeländerinnen teil. „Ich werde nie vergessen, wie Wendy Lee von ihrer Familie und ihrem Leben berichtete. Sie sagte nicht: Ich bin Professorin für das und das, sondern sprach so warmherzig und war mir so nahe! Wir alle waren beeindruckt von der Mentalität und Lebenseinstellung dieser Frauen. Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.“

„Ja“, unterbricht Clarissa, „dieses positive Herangehen ist das Wichtigste. Bei uns in Deutschland gibt es die Ressourcen-Sonne, und auf dem gelben Streifen steht, was ein Kind kann. Auf dem grünen Streifen steht, was das Kind nicht kann. Immer noch dieser defizitorientierte Blick!“

„Und dann erzählte Wendy Lee uns eine Geschichte“, ergreift Daniela wieder das Wort. „Ein schwer behindertes Kind, das sich kaum selbst bewegen konnte, kam in einen neuseeländischen Kindergarten. Die Erzieherin ging mit ihm in den Ruhe-Raum, legte sich mit ihm auf ein Wasserbett und hörte mit ihm Musik. Das Kind entspannte sich dabei und wippte mit seinem Fuß, vielleicht im Takt der Musik. Danach schrieb die Erzieherin dem Kind: ‚Heute waren wir zusammen im Ruhe-Raum. Du hast dich sichtlich wohl gefühlt, denn du hast dein Füßchen bewegt. Ich konnte sehen, dass es dir gut geht.‘

Diese kurze Aufzeichnung legte die Erzieherin in den Ordner des Kindes. Später las seine Mutter die Lerngeschichte und bedankte sich bei der Erzieherin: ‚Zum ersten Mal im Leben wurde etwas Positives über mein Kind geschrieben. Wir sind von einem Arzt zum anderen gerannt, aber es hieß immer nur: Das und das kann das Kind nicht, wird es niemals können.‘

Kurze Zeit darauf starb das Kind.

Stille herrschte im Raum, minutenlang. Dann sagte Wendy Lee: „Wer von dieser Geschichte nicht betroffen ist, sollte sich überlegen, ob er den richtigen Beruf gewählt hat.“ „Es stimmt“, findet Daniela, „unser Beruf erfordert Empathie und das Vermögen, wirklich für die Kinder da zu sein.“

Wer das kann, wer so viel Einfühlungsvermögen aufbringt, kompetent arbeitet und sich weiterbildet, wer täglich all das leistet und dabei seine Herzenskräfte verströmt – wo tankt dieser Mensch auf? Wie sorgt Clarissa dafür, dass sie genügend Kraft hat? Sie füllt ihre Ressourcen auf, wenn sie am Sonntag in die Pinakothek der Moderne geht. „Das ist für mich Erholung und Anregung. An solchen magischen Orten kann ich auftanken. Außerdem habe ich mein Team, bin keine Einzelkämpferin. Ich bin hier nicht allein.“

Daniela lächelt ihr zu und sagt: „Wir streiten uns auch mal, aber wir finden immer wieder den Weg zueinander, versuchen, ehrlich zu sein, unsere Meinungen offen zu sagen und auch auszusprechen, was wir gut finden. Man sollte einander sowieso öfter loben. Ich muss das richtig üben“.

 

Kontakt
Städtische Kinderkrippe/Kinderhaus
Felicitas-Füss-Str. 14
81827 München-Trudering
Tel.: 089/4567849-0
E-Mail: edeltraud.prokop@muenchen.de

Das Kinderhaus hat Plätze für 60 Kinder im Alter von neun Wochen bis sechs Jahren, darunter auch Kinder mit Behinderungen, deren Familien im nahen Umfeld leben. Geöffnet ist das Kinderhaus von 6.30 Uhr bis 17.00 Uhr. Schwerpunkte des Konzepts sind die Offene Arbeit im Haus und nach außen, die Altersmischung und die Freilandpädagogik. Leiterin Edeltraud Prokop: „Wir beziehen die Stadträume, Kulturräume und Kulturstätten ein, weil wir vermeiden wollen, dass die Kinder in einem Reservat leben, bis sie in die Schule kommen. Wir öffnen die Grenzen der Einrichtung, damit die Kinder ihren Horizont erweitern können.“ Zum Team gehören 17 Personen, einschließlich der Leiterin. Acht Erzieherinnen arbeiten in Vollzeit, neun in Teilzeit. Hinzu kommen der Koch, zwei oder drei Praktikantinnen und die Tagesfrauen, die für die Reinigung zuständig und im Team etabliert sind, damit die Kinder erfahren, dass diese Arbeit geschätzt wird.

 

Erika Berthold ist freie Journalistin und Redakteurin bei wamiki.

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