Das Gute Kita Gesetz – ein Interview

Sich Gehör verschaffen
Das „Gute-Kita-Gesetz“ und die Verteilungsgerechtigkeit

Das „Gute-Kita-Gesetz“ hat Folgen für die Länder, die Kitas, die Fachkräfte, die Eltern und Kinder. Zwar werden die Vereinbarungen über die Verteilung der Mittel zwischen den Ländern und dem Bund erst getroffen, aber es ist höchste Zeit, sich auch in der Praxis darüber Gedanken zu machen und die Dinge nicht allein den politisch Verantwortlichen zu überlassen.
Im wamiki-Gespräch schildert Toren Christians, stellvertretender Personalratsvorsitzender von KiTa Bremen, wie man die Mittel verteilen müsste und welchen Einrichtungen sie warum vor allem zugute kommen müssten.

Welche Überlegungen gibt es in Bremen über die Verteilung der Mittel aus dem „Gute-Kita-Gesetz“?

Gegenwärtig werden bei uns zwei Wege beschritten, auf denen die Mittel verteilt werden sollen. Der eine Weg ist: In einem Qualitätskreis, geführt von der Senatorin für Bildung, erarbeiten Trägervertreter und wir als Gewerkschaft ver.di Qualitätskriterien, die für alle Träger in Bremen und Bremerhaven gelten sollen, verständigen uns über Qualitätsziele und gucken, was geht. Über Geld wurde in diesem Kreis bisher noch nicht geredet, sondern pädagogisch-fachlich diskutiert.
Der zweite Weg, den ich neulich in einer Vorlage zum Jugendhilfeausschuss entdeckt habe: Es geht darum, die Elternbeiträge für die drei- bis sechsjährigen Kinder freizustellen. Das soll zum Sommer wirksam werden, und es wird darauf hingewiesen, wie viel Geld das „Gute-Kita-Gesetz“ in den nächsten Monaten und Jahren bringt. Es entsteht der Eindruck, dass die Option besteht, die Elternbeitragsfreistellung gegen zu finanzieren. Damit wäre das Geld aber weg. Das Land Bremen müsste dann, um die Elternbeiträge für die Drei- bis Sechsjährigen freizustellen, zirka 300 000 Euro selbst zahlen. Der Rest würde über das Gesetz finanziert.

Der Jugendhilfeausschuss empfiehlt die Beitragsfreiheit?

Die Beitragsfreiheit wurde in Bremen schon im vorigen Jahr beschlossen. Jetzt wird in den Vorlagen zur gesetzlichen Umsetzung unter anderem die Summe aus dem „Gute-Kita-Gesetz“ angeführt – als eine Option und immer unter dem Vorbehalt, dass unklar ist, wie viel das letztlich ausmacht, weil die Vereinbarung mit dem Bund ja noch aussteht.

Die Beitragsfreiheit wurde in Bremen unabhängig vom „Gute-Kita-Gesetz“ beschlossen?

Ja. Aber man ging damals von ganz anderen Summen aus. Die jetzige Summe ist viel geringer als das, was von den Landesministern verabredet war. Was jetzt für die Gesamtlaufzeit beschlossen wurde, war vorher für ein Jahr vorgeschlagen.

Der Jugendhilfeausschuss will umsetzen, was mal beschlossen wurde, und freut sich nun, dass es zusätzliches Geld gibt. Die Senatorin gibt die Analyse des Ist-Zustands in Auftrag und bestimmt Kriterien für das…

… was man fachlich weiterentwickeln will. Die Senatorin gehört dem Jugendhilfeausschuss an.

Und was hat der Qualitätskreis zu sagen?

Er arbeitet die qualitativen Anforderungen und gegebenenfalls den Finanzierungsbedarf für die Mittel aus dem „Gute-Kita-Gesetz“ aus. Das ist eine komplizierte Sache. Denn wer sagt, dass er die Qualität in einem Bundesland steigern will, hat es mit unterschiedlichen Kommunen zu tun. Er müsste also wissen, welche Qualität er an welcher Stelle steigern will und wie man Qualität bemisst. Zwischen den verschiedenen Trägern existieren aber riesige Unterschiede: Ein Kollege vertritt 30 Kitas der Stadt Bremerhaven. Zu dem Betrieb, in dem ich Personalrat bin, gehören 75 Kitas. Einige Sprecher von Elternvereinen und -initiativen sind für kleine Einrichtungen oder Krabbelgruppen zuständig. Angesichts dieser Vielfalt lässt sich Qualität nur schwer bemessen. Aber es ist richtig, dass ein offener Dialog darüber geführt wird.

Gibt es einen Zeitplan für das weitere Vorgehen?

Es gibt keinen offiziellen End-Zeitpunkt, aber den Plan, bis zum Sommer etwas auf dem Papier stehen zu haben. Andererseits: Im Mai haben wir Wahlen in Bremen. Was bis dahin nicht beschlossen ist, muss eventuell neu verhandelt werden, wenn eine andere Partei das Bildungsressort besetzt und neue Leute auf andere Ideen kommen oder andere Schwerpunkte setzen. Von daher: Man muss gucken, was am Ende rauskommt.
Wissenschaftlich begleiten Dr. Christa Preissing und Prof. Dr. Susanne Viernickel den Prozess. Deshalb denke ich, dass ein paar gute Orientierungen herauskommen.

Gibt es schon Qualitäts-Kriterien?

Im Moment sind wir beim Sortieren.

Zeichnet sich ein Trend ab?

Ein Trend wäre vielleicht der Versuch, Qualität in einem dialogischen Modell zu entwickeln. Also kein Mess-System wie die KES-Skala oder Ähnliches. Aber ich bin Realist und glaube, am Ende läuft es darauf hinaus: Wie verteilt man die Mittel unter den verschiedenen Trägern so, dass alle etwas damit anfangen können? Geld in dem Umfang für Qualitätssteigerung einzusetzen – das ist eine diffizile Sache. Wo setzt man an?
Das größte Geschenk hat man schon jetzt denjenigen gemacht, die die höchsten Kita-Beiträge zahlen. Kriegen diese Familien einen Anteil, sind sie deutlich entlastet. Aus meiner gewerkschaftlichen und pädagogischen Sicht wäre es aber viel wichtiger, endlich mal etwas für die Kitas an Brennpunkten zu tun.

Was würdest du machen, wenn du für Bremen entscheiden könntest?

Ich würde als erstes versuchen, genau herauszufinden, wie die Besucherstruktur der einzelnen Kitas und Einrichtungen ist. Das heißt: Welchen Bildungshintergrund haben die Eltern? Welchen finanziellen Hintergrund haben sie? Danach würde ich ein Ranking aufstellen. Die Kitas, die am „schlechtesten“ wegkommen, würde ich – vom Gebäude wie vom Personal und allem anderen – so ausstatten, dass Eltern aus anderen Kitas ihre Kinder dort anmelden.

Angesichts der Personalnot und fehlender Kita-Plätze hört sich das geradezu utopisch an.

Der Mangel an Kita-Plätzen ist relativ. Schraubt man das Angebot immer weiter hoch und sagt: Ihr könnt noch mehr erwarten, noch längere Betreuungszeiten in Anspruch nehmen und jetzt auch noch kostenfrei, dann liegt die Nachfrage bei fast 100 Prozent. Das ist nicht mehr zu erfüllen, wenn man so viele Jahre lang verpennt hat, genügend Fachkräfte auszubilden.
Vielleicht muss man an der einen oder anderen Stelle mal sagen: Okay, wir sind politisch mit unseren Versprechen über das Ziel hinausgeschossen, müssen einen Schritt zurückgehen und eingestehen, dass wir die Betriebsmittel im Moment nicht haben. Doch das ist nicht populär.
Ganz platt: Will man qualitativ gut arbeiten, braucht man gut ausgebildete Fachkräfte. Aber zu Beginn des letzten Kita-Jahrs fehlte in jeder Bremer Einrichtung durchschnittlich eine Erzieherin. Das summiert sich übers Jahr. Deshalb müsste man einen Schnitt machen und sagen: Wir versprechen den Eltern und der Öffentlichkeit nicht mehr, dass es viel toller wird, sondern nehmen das Geld, das da ist, zum Konsolidieren.
Guckt man sich allein die bauliche Situation der Einrichtungen in einer Stadt wie Bremen an: Es gibt Kitas, die sind „Sanierungsfälle“, und andere, die im Ausbau-Programm berücksichtigt wurden und schon fast den Vorstellungen entsprechen, die eine Erzieherin von ihrem Arbeitsplatz hat. Die Realität ist aber, dass einige Einrichtungen nicht mal über Pausen- und Mitarbeiterräume verfügen. Von großer Wertschätzung der Fachkräfte zeugt das nicht.
Schaue ich mir andere Betriebe und deren Pausenräume an: Es gibt eine Kantine für die Mitarbeiterschaft, angemessene Büros. Eine Erzieherin hingegen hat oft nicht mal Platz für ihre Unterlagen, gar nichts. Wo bereitet sie sich vor, wenn sie acht Stunden für eine Gruppe zuständig ist? Das Haus brummt, es gibt keinen ruhigen Ort für sie, keinen Internetzugang. Jedenfalls ist das nicht Standard, sondern eher die Ausnahme.
Will man von Bildungs- und Sozialarbeit sprechen, müsste eine Kita mit 20, 30 pädagogischen Fachkräften Räume haben, in denen Erzieherinnen sein können, wenn sie nicht mit den Kindern arbeiten. Jede Schule hat ein Lehrerzimmer. Ganz normal! Diesen Standard gibt es in Kitas bei weitem nicht.

Und schon gar nicht in Brennpunkt-Kitas.

Ich glaube, die einzige Möglichkeit besteht darin, eine gesellschaftliche Mischung herzustellen. Wir müssen in den Stadtteilen, in denen die Kinder es am schwersten haben, die Einrichtungen so attraktiv machen, dass mobilere Familien, die für ihre Kinder etwas Besseres wünschen, sie dort hinbringen.
Viele Menschen wissen überhaupt nicht, was das Leben in Armut für Kinder heißt, deren Mütter und Väter ihre Pflichten aufgrund ihrer Belastungen nicht so wahrnehmen können, wie wir denken, dass Eltern das tun müssen.

Wie kann das gelingen?

Man müsste die Mittel nach folgendem Kriterium verteilen: Welche Länder haben die meisten Bedarfe hinsichtlich des Durchschnittseinkommens und des durchschnittlichen Bildungsstandes der Bevölkerung? Diese Länder müssten das Geld dann auf ihre ärmsten Kommunen verteilen. Ein Bundesland wie Bayern könnte demnach nicht so viel Geld nach München schicken, wie München, eine relativ reiche Kommune, anteilig Einwohner hat. Also würden andere Kommunen berücksichtigt werden. Für die politisch Verantwortlichen wäre das ein komplettes Umdenken und würde zu einer ganz anderen Verteilung von Mitteln führen.

Solch ein politisches Handeln würde wahrscheinlich vielen Menschen viel mehr imponieren als Versprechungen, von denen die meisten vermuten: Wird sowieso nichts draus.

Stimmt. Aber das müsste sich jemand trauen. Es wäre nämlich ein Handeln – und zwar von jeder Partei, die im Bundestag sitzt – gegen die eigene Klientel, die eigene Wählerschaft.
An Wahlen beteiligt sich ja nur noch die Hälfte der Bevölkerung. In Stadtteilen, in denen es den Leuten besonders schlecht geht, liegt die Wahlbeteiligung bei 20 Prozent. Das heißt: Wer sich das traut, würde diejenigen, die zur Wahl gehen und ihm ihre Stimme geben, vor den Kopf stoßen, weil er denen etwas gibt, die ihn nicht gewählt haben.

Deshalb ist die Beitragsbefreiung so populär. So etwas bringt Wählerstimmen. Bei den Leuten, die Geld haben, schlägt sie am meisten zu Buche. Bei den Familien, die schon Zuschüsse bekommen, nicht.

Ich sehe das bei meiner Tochter. Natürlich freut sie sich darüber, dass jetzt in Niedersachsen Beitragsfreiheit herrscht und sie ihr Haus deutlich schneller abzahlen kann. Das kann ich nachvollziehen. Gekauft hatte sie das Haus aber vor dem Beschluss der Beitragsfreiheit und könnte es anders abzahlen.

Noch mal zurück zum Thema „Personal“ und dem Fachkräftemangel. Wie sieht es damit in Bremen aus?

Weil die Kolleginnen und Kollegen daran interessiert sind, dass es den Kindern gut geht, wird der Mangel überdeckt. Die Fachkräfte tun mehr, als ihnen gut tut. Das führt dazu, dass engagierte Kolleginnen und Kollegen, die schon lange im Beruf sind, krank werden und ausfallen. Die Krankheitsraten bei Erzieherinnen und Erziehern sind in den letzten Jahren astronomisch gestiegen – eine Auswirkung des Fachkräftemangels. Die andere Auswirkung: Ältere Kolleginnen halten den Stress nicht bis zur Rente aus und flüchten sich in Teilzeit.
Berufseinsteigerinnen hingegen kriegen heute sofort unbefristete Verträge und können bis zu 39 Stunden arbeiten. Manche sagen aber: So heftig brauche ich das nicht; ich komme mit dem Geld für 30 Stunden aus und arbeite Teilzeit. Trotz des Fachkräftemangels hat sich die Teilzeitquote in unserem Bereich kaum verändert. Das heißt: Wer kann, flüchtet sich in Teilzeit oder Nebenjobs, weil das Geld doch gebraucht wird, denn in der Kita ist der Druck zu hoch, und es kommt zu Überforderungen.
Ein Beispiel: Eine Kollegin, die mehr als 20 Jahre in einer Einrichtung arbeitet, reagiert in einer Stresssituation über und hält einem Kind die Hände fest, das rumkaspert. Obwohl die Frau weiß, das ihr Handeln nicht richtig ist, kommt es zu einem Gespräch mit der Fachberaterin, die ihr einen Vortrag hält und sie auffordert, an ihrer „Haltung“ zu arbeiten. Fast hätte es eine Abmahnung gegeben. Ich finde: Nicht die Erzieherin ist schuld – angesichts der druckvollen Bedingungen, die in ihrer Kita herrschen. Ganz andere Leute haben das zu verantworten.

Schlimm ist auch, dass erfahrene Kolleginnen aus dem Beruf aussteigen, weil sie die Arbeitsweise, zu der sie angesichts des Mangels gezwungen sind, nicht mehr mit ihrem Berufsanspruch vereinbaren können.

Eine andere Variante dieses Problems: Aus dem Umland kommen Erzieherinnen, die in ihren Wohnorten auch gern gesehen sind, zur Arbeit nach Bremen. Zunehmend entscheiden sie sich, in der beschaulichen Umlandgemeinde zu bleiben, und haben auf einen Schlag eine Elternschaft, die sie nicht in allen Großstadt-Ortsteilen geboten kriegen. Sie haben kurze Arbeitswege, die Einrichtungen und ihre Außengelände sind schöner, und teilweise werden sogar Zulagen auf den Tarif bezahlt. Inzwischen haben wir regelmäßig Kündigungen von Kolleginnen, die sich ins Umland flüchten. Viel mehr als früher. Im Prinzip ist das eine Art Umverteilung: Engagierte Kolleginnen und Kollegen gehen dorthin, wo es den Menschen besser geht.
In Bremen versucht ver.di gerade, mit den Arbeitgebern eine Tarifregelung festzulegen, die den Fachkräften, die in schwierigen Kitas arbeiten, ihren höheren Aufwand entgeltet – nach Sozialindex verteilt. Trotzdem wandern welche auf die andere Seite der Stadtgrenze ab.

All das müsste sich in den Analysen, die jetzt gefordert sind, niederschlagen.

Nein, das spielt überhaupt keine Rolle, wird nicht berücksichtigt. Man will nicht wirklich umsteuern, nichts umstellen. Die Verteilung der Mittel aus dem „Gute-Kita-Gesetz“ läuft pro Kopf der Bevölkerung. Danach ist das Kind eines Millionärs dem Kind einer Familie mit Sozialhilfe gleichgesetzt.

Also geht es letztlich darum, die bestehenden Verhältnisse abzusichern und nicht zu verändern. Was ist dein worst-case-Szenario, Toren?

Aus meiner Rolle und Funktion heraus ist mein worst-case-Szenario, dass genau an den prekären Stellen demnächst unausgebildete und schlecht ausgebildete Menschen eingesetzt werden, um die Betreuungszeiten zu sichern. Wir erleben jetzt schon, dass wegen fehlenden Personals mit den Eltern für bestimmte Zeiten Vereinbarungen getroffen werden, den vollen Betreuungsumfang, den sie zu Beginn des Kindergartenjahres zugesichert bekamen, nicht mehr in Anspruch zu nehmen. All das trifft wieder die Familien, die wir eigentlich besser stellen müssten.
Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind, können ihre Kinder bis 16.00 Uhr in der Kita lassen. Sitzen Mutter oder Vater zu Hause, steht ihnen nur eine Betreuungszeit bis 12.00 oder 13.00 Uhr zu. Das besser ausgebildete Personal wird dann in den Bis-16.00 Uhr-Gruppen eingesetzt. Das notausgebildete Personal ist für die Kinder in den Kurzzeit-Gruppen zuständig, deren Eltern wahrscheinlich nicht aufmucken.
Wenn in einer Kita mal was schief läuft, landet sie schnell in der Zeitung. In vielen Kitas, die die Betreuung in den letzten Jahren aufgrund Personalmangels nicht sichern konnten, sorgten Eltern dafür, dass die Presse das brachte: Betreuung unsicher, mehr Not- als Regeldienst und, und, und…

Es gab in diesem Zusammenhang eine Selbstanzeige eines Kita-Trägers „Fröbel“ in Brandenburg. Wie reagieren die Träger in Bremen auf solche Notlagen?

Unsere Geschäftsführung ist direkt der Senatorin unterstellt. Deshalb darf unser Träger wie alle staatlichen Betriebe nicht mit einer Selbstanzeige reagieren. Private Träger können das tun.
Unser Träger reagiert, indem er versucht, personelle Aufstockungen in schwierigen Situationen vorzunehmen. Immer dort, wo der öffentliche Druck hoch ist, genehmigt der Träger für die betroffene Kita eine Sonderausstattung. Plötzlich kriegt die Leitung 15 Stunden mehr, um die Situation besser managen zu können, damit ihre Kita nicht mehr in der Zeitung steht.

Und woanders werden die Löcher größer.

Sie bleiben bestehen oder reißen auf.

Das ist, als ob man immer mehr Schulden macht und eigentlich Insolvenz anmelden müsste. Wenn die Rahmenbedingungen so schlecht sind, dass die Arbeit nicht mehr geschafft werden kann, erhebt sich die Frage, ob man weitermachen oder sagen muss: Es geht nicht mehr!

Die politisch Verantwortlichen müssten eingestehen: Wir haben mit dem, was wir versprochen haben, überzogen und müssen zurückrudern. Wir brauchen jetzt fünf oder zehn Jahre lang noch mehr Geld, um weniger zu machen. Jedenfalls so lange, bis genügend Erzieherinnen und Erzieher ausgebildet sind.
Stellt euch vor, ihr habt eine Reise geplant und sitzt im Flieger. Die Türen werden geschlossen, das Flugzeug rollt auf die Startbahn, und der Pilot hält seine Ansprache: „Das Wetter ist gut, unsere Triebwerke sind frisch gewartet. Das hat eine umgeschulte Fachkraft gemacht, die bisher im Kindergarten beschäftigt war. In 160 Stunden hat sie das gelernt.“ Ich wette, dass ganz viele Leute sofort aussteigen wollen. Aber in der Kita kann man so was machen.

Wo und wie kann man denn jetzt noch Druck machen – zum Beispiel in Bremen?

Wenn die Haushalte fürs nächste Jahr beschlossen werden, müssten die Analysen fertig sein. Schon vor der Planung der Haushalte muss man den Finger in die Wunde legen und denjenigen, die die Gelder wahrscheinlich falsch lenken, wenigstens die Peinlichkeit ihres Handelns deutlich machen.
Ich bin mittlerweile Realist genug, um zu sagen, dass man nicht umsteuern kann. Doch wir können Fragen stellen und Erklärungen fordern, was mit den Geldern warum passiert. In Bremen und überall.

Welche Fragen könnten das sein?

Dafür gibt es kein Rezept. Aber es hilft immer, so viele politische Verantwortungsträger anzusprechen, wie man erwischen kann. Im Stadtteil kann man den Stadtteilbeiratssprecher oder den Vertreter der Opposition fragen, wie er sich die Verteilung der Mittel vorstellt. Trifft man auf einer anderen Ebene jemanden, der politische Verantwortung trägt, kann man ihn fragen, wie es sein kann, dass es so ist, wie es ist.
In Bremen laden wir unsere Landesministerin zu einer Personalversammlung ein – vor den Wahlen. Die Kolleginnen und Kollegen werden sie fragen, was sie denn mit dem Geld machen will, das sie kriegt. Ich finde, dass Fachkräfte, die unter Druck stehen, die treffendsten Fragen stellen und die politisch Verantwortlichen in größte Erklärungsnot bringen können.

Das Leitmotiv der Bundesministerin Giffey ist: Damit es jedes Kind packt. Dafür macht sie die Gesetze, sagt sie.

Ja, das ist gut gemeint. Man muss den Politikerinnen und Politikern aber erklären, was es für Auswirkungen hat. Das sehen sie nicht mehr. Dazu sind sie zu weit weg. Deshalb ist es so wichtig, dass die Fachkräfte, die Erzieherinnen und Erzieher, nicht versuchen, alles mit sich selbst und in ihren Einrichtungen auszumachen, sondern diejenigen einladen, die die Verantwortung für die Zustände tragen, und ihnen erklären, was Sache ist.

Neulich erzählte eine Kita-Leiterin am Telefon: „Viele Kolleginnen beschweren sich. Aber es hilft ja nichts. Ich bleibe lieber positiv eingestellt und versuche, das zu machen, was geht. Denn am Ende landet ja alles auf dem Rücken der Kinder…“
Das ist ein klassisches Phänomen in der Branche. Viele Fachkräfte agieren nicht politisch, sondern subjektivieren die belämmerte Situation: Ich bin verantwortlich und muss retten, was zu retten ist. Bin ich schlecht gestimmt, dann bin ich selbst schuld. Habe ich die richtige „Haltung“, wird es schon gehen. Es liegt an mir, nicht an den Bedingungen. So ist es aber nicht. Es wird sich nichts verändern, wenn alle denken: Ich regle das mit meinem Team oder zur Not allein.
Gegen das Gefühl des Allein-gelassen-Seins hilft Austausch: In jedem Bundesland geraten die Fachkräfte ans Limit. Und immer aus den gleichen Gründen.

Wenn sie erfahren, dass es überall so schlecht ist, stecken sie vielleicht die Köpfe in den Sand. Andererseits: Sich Gehör zu verschaffen, das ist schon mal ein Erfolg. Da wächst die Lust, weiterzumachen und nicht nur einzustecken. Man muss aber einen langen Atem haben.

Erde auf dem Feld – Erde auf dem Dach


Preview des Dokumentarfilms von Donata Elschenbroich, Petra Larass und Otto Schweitzer am 27. April um 17.00 Uhr im ACUD Kino, Veteranenstraße 21, 10119 Berlin

Erde! Ein „Unterrichtsgegenstand“? In Westbengalen?
Ein Wissen über die Erde, den Boden, unsere Lebensgrundlage, entwickeln Kinder nicht von selbst, auch dann nicht, wenn sie in den indischen Dörfern nah am Boden leben. Das Wissen, das heute in den Augen ihrer Eltern zählt, ist allein das schulische Wissen. Und in den Megacities gibt es auf den versiegelten Böden für die Kinder keinerlei Erfahrung von organischem Wachstum.
Auch in Indien wie in anderen Gesellschaften weltweit ist „nachhaltige Entwicklung“ zu einem alternativen Bildungsziel geworden.
Die Dokumentarfilmer Otto Schweitzer und Donata Elschenbroich sind 2017 zusammen mit Petra Larass den engagierten Pädagogen gefolgt in die Grundschulen und Jugendclubs der Dörfer in Westbengalen. Sie konnten umweltpädagogische Projekte von eindrucksvoller Qualität beobachten – Grundschüler, die Herbarien anlegen von in ihrem Nährwert unterschätzten „Unkräutern“,  und statistische Erhebungen durch Jugendliche in ihren EcoClubs zum Klimawandel und zur Ökologie ihrer Dörfer. Und auch in der Megacity Kalkutta bemühen sich Lehrer, den Kindern in ihrem survival of the fittest eine sinnliche Erfahrung zu ermöglichen mit einer Handvoll Erde: Wurzeln, Pflanzen, auf den Dächern der Slumschulen.
Im Anschluss an den Film, 45 Minuten, wird Ralf Tepel, Vorstand der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, die den Film maßgeblich unterstützt hat, für Fragen zur (Bildungs-) Arbeit der Stiftung in Indien zur Verfügung stehen.
Und nach Rückmeldungen aus dem Publikum freuen wir uns auf Gespräche bei Brot & Wein im Garten vom ACUD Kino.
Wenn jemand mit dem Film arbeiten möchte, in der Schule, in umweltpädagogischen Projekten: Wir haben von der Erstauflage noch einige DVDs, die wir dafür gern zur Verfügung stellen.
Herzlich
Petra Larass und Donata Elschenbroich

wamiki-Tipp: Die Neuauflage des Filmes erscheint im 1. Halbjahr 2018 bei wamiki, gemeinsam mit 21 Filmen aus 21 Jahren in der Reihe: WELTWISSEN in Familie, Kindergarten und Schule. Von Donata Elschenbroich und Otto Schweitzer.

Kritik an Bedingungen in deutschen Kitas

Wir kritisieren die Bedingungen in deutschen Kitas und fordern mehr Personal und Qualität – jetzt und dringlich!

Als Vertreter*innen des bundesweiten „Netzwerk Fortbildung: Kinder bis drei“1 schlagen wir Alarm. Wir kritisieren die unzumutbare Überbelastung des Personals in pädagogischen Einrichtungen. Den Erzieherinnen und Erziehern wird ein immer größer werdender Aufgabenberg zugemutet, ohne ihnen die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Immer mehr Fachkräfte sind von Burn-out bedroht. Hoch engagierte Fachkräfte geben ihren Beruf auf, weil sie ihre pädagogischen Ziele nicht mehr umsetzen können oder weil sie unter den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht mehr arbeiten wollen.

Wir wissen aus zahlreichen Studien zur Qualität von Kindertagesbetreuung2, dass qualitativ gute Betreuung exzellente Rahmenbedingungen braucht, um das Wohl aller Kinder und ihr Recht auf Bildung zu gewährleisten. Jedoch zeigen unsere aktuellen bundesweiten Erfahrungen aus Praxisforschung, Fachberatung, Fortbildung und Supervision, dass die Schere zwischen den Rahmenbedingungen der Einrichtungen und den Anforderungen an die Fachkräfte immer weiter auseinander klafft.

Wir erleben engagierte Träger im Land, die ihre Verantwortung wahrnehmen und ihre Einrichtungen weit über den Mindeststandard ausstatten, auch wenn dies die eigenen Kassen strapaziert. Sie brauchen eine bessere finanzielle Ausstattung durch Land und Bund!

Gleichzeitig erleben wir jedoch viele Träger, die ihre Einrichtungen vernachlässigen und nur darauf setzen, dass Eltern sich nicht beschweren.

Als Fortbildner*innen und Berater*innen mit engem Praxiskontakt sehen wir uns in der Pflicht, diese Missstände öffentlich zu machen:

 

In vielen Bundesländern ist die Fachkraft-Kind-Relation unhaltbar.

• Es gibt deutlich zu wenig bis gar keine Zeit für Teambesprechungen, um die pädagogische Arbeit zu reflektieren;

• Teilzeitkräfte haben keine Übergabezeiten; es fehlen Vorbereitungszeiten;

der Krankenstand ist hoch: umso höher, je schlechter die Rahmenbedingungen sind;

• durch die hohen Belastungsanforderungen entstehen strukturelle unbewältigbare Überforderungssituationen; wir erfahren, dass Fachkräfte ungewollt in Situationen geraten, in denen das Wohlergehen, die Würde und die Rechte der Kinder gefährdet sind, obwohl Erzieher*innen Anwälte der Kinder sein wollen.

 

Deshalb fordern wir für Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder in den ersten drei Lebensjahren:

• Kinderrechte als Maßstab für politische Entscheidungen;

• bessere personelle Ausstattung für alle Kindertageseinrichtungen;

• fachlich qualifizierte und für Teamentwicklung freigestellte Leitungen für jede Kindertageseinrichtung;

• qualifizierte, verlässliche und finanzierte Aus- und Fortbildung, Fachberatung, Supervision;

• Berücksichtigung der verschiedenen Arbeitsaufgaben in Kindertageseinrichtungen, das heißt: Anstellung von Verwaltungs- und hauswirtschaftlichen Kräften;

• Einbindung und Mitbestimmung pädagogisch fachlicher Expertise in Planung und Durchführung von Aus- und Neubauten;

• mehr Raum für Kind und Fachkraft.

 

Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr – jetzt!

Wir fordern Sie auf, in Bund, Land, Kommunen und der Trägerlandschaft Ihren Beitrag in der Verantwortungsgemeinschaft für Kindertagesstätten zu leisten, damit die Rechte und die Würde aller Kinder gewahrt werden.

Statten Sie Kindertagesbetreuung so aus, dass Kinder- und Menschenrechte garantiert sind und der gesetzliche Bildungsauftrag durch die Fachkräfte erfüllt werden kann.

Wir sind dabei und laden Sie ein, mit uns ins Gespräch zu kommen!

 

Kontaktadresse:

qualitaet.jetzt@gmail.com

In Vertretung der Erstunterzeichner*innen:

Barbara Baedeker, Freiburg; Elisabeth Erndt-Doll, Herrsching; Michaele Gabel, Idstein; Ute Steinmüller, Rostock; Prof. Dr. Wiebke Wüstenberg,

Frankfurt; Sylvia Zöller, Karlsruhe

 

Inklusions-Alltag

Erfurt, im Mai 2015: Aufregung herrscht in den Kitas „Sommersprosse“ und „Farbenklecks“, denn übermorgen wird Einweihung gefeiert. Besser: das Ende der lang anhaltenden Renovierungsarbeiten, in deren Zuge die beiden Kitas endgültig zusammenwuchsen – bei vollem Betrieb. Das war Inklusion pur und unter verschärften Bedingungen. Erfahrungen im Umgang mit dem Einschließen von Unterschieden hatten die Team-Mitglieder allerdings schon gemacht – in vielen Bereichen und Situationen.

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Die Sprachexpertin

Mit diesem Beitrag wird die Serie fortgesetzt, in der wir – in Kooperation mit der GEW und um die Kampagne „Für ein besseres EGO“ zu unterstützen – Pädagoginnen porträtieren, über ihre Arbeit, ihre Kompetenzen und ihr Engagement berichten. Mehr über die Kampagne erfahrt Ihr auf unserer Internetseite: www.wasmitkindern.de
Diesmal stellt wamiki die Erzieherin Jenny Thörner-Klasen aus der zwischen Eifel und Mosel gelegenen Kita Wittlich-Neuerburg vor.

„Als ich nach der 10. Klasse von der Schule abging, überlegte ich, welchen Weg ich jetzt einschlagen könnte. Welcher Beruf könnte mich interessieren? Ich entschied mich für einen sozialen Beruf, weil ich schon immer interessant fand, wie der Mensch sich entwickelt, was ihn ausmacht, und wurde Erzieherin“, sagt Jenny Thörner-Klasen. „Ich wollte Kinder in ihrer Entwicklung begleiten und unterstützen.“

Jenny bewarb sich in einer großen Kita, absolvierte dort ihr Vorpraktikum und lernte, etwas für Kinder vorzubereiten, deren Interessen sie zu kennen glaubte. „Eigentlich ein Widerspruch in sich“, sagt sie, „aber so war es. Wir beobachteten die Kinder und nahmen eine Situationsanalyse vor, anstatt sie zu fragen, was sie machen wollen.“

Von laut nach leise und umgekehrt

Jenny ist 30 Jahre alt. In den letzten Jahren eignete sie sich in Fort- und Weiterbildungen zum Thema „Sprache“ Fach- und Hintergrundwissen an, das sie ins Team und konzeptionell einbringt. Ihr Bereich ist die pädagogische Arbeit mit den Jüngsten.

Beim Rundgang durch die Kita erklärt Jenny: „Der lange Flur verbindet diese Bereiche. Jeder Raum hat seinen speziellen Aufforderungscharakter. Am rechten Ende des Flurs liegt der Bewegungsraum, es folgen der Werkraum, der Bauraum und der Verkleidungsraum. Am linken Ende befindet sich der ruhigere Bereich, in den die Kinder durch die meist offene Glastür gelangen.“ Es geht also von laut nach leise.

„Ja“, sagt Jenny, „das ist das Prinzip. Den leisen Bereich bevorzugen die jüngeren Kinder. In den Räumen finden sie Sandtische, Kugelbahnen und Fühlinseln, also viele Möglichkeiten, leib-sinnliche Erfahrungen zu machen. Übrigens gestattet das Von-laut-nach-leise-Prinzip des Hauses allen Kindern, sich selbst zu regulieren, denn sie finden in jedem Raum Rückzugsmöglichkeiten und können auswählen, was gerade für sie passt. “

Der Flur ist lang und würde eine tolle Rennstrecke abgeben, wenn es da nicht viele Inseln gäbe. Zum Beispiel eine Sitzecke mit einem Sofa und Sesseln aus Urgroßvaters Zeiten, dahinter Regale mit den Bildungsbüchern und Könner-Heften der Mädchen und Jungen. Erlauben es die Kinder, dürfen Eltern oder Freunde darin blättern. Schräg gegenüber steht das „Birkenwäldchen“, eine Baumgruppe ohne Wurzeln und Kronen, aber mit einem Hochsitz, auf den Kinder klettern und den ganzen Flur überblicken können: Wer kommt? Wer geht? Was tut sich rundum?

Den Flur teilt ein niedriger runder Tisch, dem Kita-Eingang gegenüber platziert, an dem eine Erzieherin mit Kindern sitzen und sich mit ihnen austauschen, aber auch als Ansprechpartnerin für Kommende, Gehende oder Vorbei-Gehende fungieren kann. Gleich daneben steht eine Voliere, in der Wellensittiche zu Hause sind. Eines Tages brüteten sie. Als die Zeit heran war, schlüpfte tatsächlich ein Küken aus. Walter wurde es genannt. Unter der Überschrift „Unsere Wellensittiche haben Nachwuchs“ wurde seine Entwicklung dokumentiert. Doch der Kleine hatte eine Fußfehlstellung. In der freien Natur hätte er kaum Überlebenschancen gehabt. Die Dokumentation liegt neben der Voliere auf einem Tisch, und jeder kann Walters Werdegang noch einmal verfolgen. „Walter hatte eine starke Einschränkung“, sagt Erni Schaaf-Peitz, die Leiterin, „aber er war voller Lebensfreude. Ein Züchter sagte mir: ‚Das wird nichts, den müssen Sie entsorgen.‘ Trotzdem brachte ich das Vögelchen zurück in die Voliere. Seine Eltern waren froh, dass Walter wieder da war, fütterten ihn, und alle waren guten Mutes. Regelmäßig bandagierte eine Tierärztin seinen Fuß, ich machte mit Walter Krankengymnastik. Schließlich entwickelte er spezielle Fähigkeiten, bewegte sich unter Zuhilfenahme seines Schnabels, kletterte und lernte fliegen. Wir bauten breitere Stangen in die Voliere, so dass er besser landen konnte. Die Hauptgründe für Walters Genesung waren jedoch seine Stärke und die Zuwendung seiner Eltern. Mit der allergrößten Selbstverständlichkeit lebten die Vögel uns vor, was möglich ist, wenn man sich umeinander kümmert. Faszinierend für die Kinder, die Eltern und das Team.“

Dass Walters Geschichte an dieser Stelle erzählt wird, soll übrigens kein Argument für tiergestützte Pädagogik sein, sondern ein Beleg für den offenen Umgang mit den Dingen der Welt, die vor keiner Kita-Tür Halt machen, aber nicht überall eingelassen werden, ob Offene Arbeit im Konzept steht oder nicht.

Verstehen und verstanden werden

Jenny Thörner-Klasen ist die Sprachexpertin in der Kita. Schon währen ihrer Ausbildung zur Erzieherin gingen ihr die Dimensionen des Berufs auf, sie merkte, wie breit er gefächert ist. Da erwachte ihr Interesse erst wirklich, sagt sie heute, und erklärt: „Es kommen immer jüngere Kinder in die Kitas, die sich hauptsächlich nonverbal verständigen. Ich muss sensibel und einfühlsam sein, um zu merken, was sie mir mitteilen möchten. Wie finde ich heraus, was so ein kleines Kind braucht? Was möchte es von mir? Was will es mir signalisieren?“

Nicht zufällig geriet Jenny nach ihrer Elternzeit zu den Jüngsten. „Die Entwicklungssprünge, die gerade kleine Kinder machen, faszinieren mich. Gut finde ich, dass wir uns nicht mehr unbedingt nach all diesen Tabellen richten müssen, in denen steht: Bis zu dem Monat muss ein Kind dies und das können. Wenn nicht, besteht Förderbedarf, und dann wird ihm etwas aufgezwungen, das es womöglich gar nicht gebrauchen kann. Ich finde es viel spannender, die Entwicklung der kleinen Kinder zu beobachten, zu dokumentieren, zu begleiten und herauszufinden, was ihnen gut tut. Mittels Mimik, Gestik, Blickkontakt, der Stimme…“ Jenny glüht förmlich, ihre Augen strahlen. „Da sitze ich auf dem Boden, ein Kind kommt angekrabbelt und zupft mich am Ärmel. Ich wende mich ihm zu, schaue es an und zeige ihm damit: Ich bin da, du kannst mir etwas mitteilen. Es kann sein, dass ich das Kind frage: Möchtest du etwas? Das Kind nickt oder schüttelt den Kopf, ergreift aber meinen Zeigefinger und führt mich. Ich folge ihm, lasse mich leiten, und es zeigt mir, was es möchte. Ohne Worte.“

Wir müssen authentisch mit Kindern kommunzieren, sie ernst nehmen, so klein sie noch sind.

Das ist die nonverbale Kommunikation, die die Erzieherin leib-sinnlich beherrscht. Kein Wunder, möchte man denken, denn in dieser Kita kommuniziert man auch erfolgreich mit Wellensittichen, ohne zu pfeifen oder zu flöten. Aber was ist mit der Sprache? „Ich finde immer wieder beeindruckend“, sagt Jenny, „wie Kinder sich Sprache aneignen. Wenn ich ihnen zeige, dass ich ihre Zwei-Wort-Sätze verstehe, wieso kommen sie zu Drei-Wort-Sätzen? Welche Motivation haben sie, ihre Sprache weiterzuentwickeln? Sie wollen verstehen und verstanden werden. Das ist der Motor der Sprachentwicklung. Und Sprache ist ein Schlüssel zur Welt.“

Ein weiterer Schlüssel: gute Beziehungen. „Wenn Kinder sich wohl und sicher fühlen, dann können sie die Welt entdecken, Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen, neugierig auf alles zugehen und ihre eigenen Wege finden. Fühlen sie sich unsicher, sprechen sie vielleicht nicht oder ziehen sich womöglich zurück.“

Jenny sagt: die Kinder. Jenny sagt nicht: Wir, die Erwachsenen, machen dies und das. Aber sie sagt: „Eine Erzieherin kann für die Sprachentwicklung kleiner Kinder nichts Besseres tun, als authentisch mit ihnen zu kommunizieren, was voraussetzt, sie ernst zu nehmen, so klein sie noch sind. Also nicht eia-eia, wau-wau, sondern – selbst wenn sie nicht alle Wörter verstehen – der ernsthafte, zugewandte Dialog. Diese Haltung nehmen junge Kinder sofort wahr, reagieren darauf und können sich in ihrer Sprache, auch der verbalen, weiterentwickeln.“

Bewegung und Vielfalt

Das Team hat sich der Offenen Arbeit verschrieben und bietet den Kindern damit die Möglichkeit, über sich hinauszuwachsen, jeden Tag ein Stück weiter zu gehen. Jenny beschreibt das bei den Jüngsten so: „Sie krabbeln oder gehen zur Tür, bleiben stehen, gucken und gehen wieder zurück. Ein paar Tage später überschreiten sie die Schwelle und schauen um die Ecke in den Flur. Erkenne ich das, kann ich sagen: Komm, wir gehen ein Stück weiter.“

Wahrscheinlich muss Jenny gar nichts sagen, denn die Kleinen merken: Jenny ist da, ich kann mich ins Unvertraute wagen. „Doch“, sagt Jenny, „Zuspruch ist immer gut.“

Ein anderer Vorzug der Offenen Arbeit: Die Kinder lernen von anderen Kindern, nicht allein von gleichaltrigen, sondern auch von älteren oder jüngeren, und von den Erwachsenen. „Wir haben hier alles quer Beet“, sagt Erni Schaaf-Peitz, „sind quasi ein Spiegelbild der Gesellschaft. Im Team gibt es zur Zeit zwei türkische Erzieherinnen, eine Erzieherin mit russischem Hintergrund, einen Erzieher und eine junge Frau mit Förderschulabschluss, die ein freiwilliges soziales Jahr bei uns absolviert. Ganz selbstverständlich wachsen die Kinder hier mit verschiedenen Menschen auf, mit kleinen und großen, dicken und dünnen, jungen und älteren. Das ist für sie normal.“

Manche Eltern fragen bei der Anmeldung trotzdem, wie es mit dem Migrationshintergrund in der Kita aussieht. „Super“, sagt Erni Schaaf-Peitz dann und geht in die Offensive, „wir begrüßen es sehr, wenn Familien mit verschiedenen Hintergründen uns bereichern, und freuen uns, dass wir Kinder haben, die in Persien geboren wurden, aus Marokko, Aserbaidschan und Rumänien, aus den USA, Finnland, der Türkei und Frankreich zu uns kommen. Diese Vielfalt macht unser Leben aus. Wir können voneinander lernen.“

Austausch und Ermutigung

Als Erzieherin mit dem Schwerpunkt „Sprache“ ist Jenny Thörner-Klasen nicht allein bei den Kleinen unterwegs, sondern im ganzen Haus. „Besonders wichtig ist es mir, mich mit den Kolleginnen auszutauschen, wenn es um Sprachanlässe geht oder darum, Dialogmöglichkeiten zu erkennen und aufzugreifen. Ein Beispiel: Will ein Kind in den Garten, kann ich es einfach schnell anziehen. Ich kann diese Alltagssituation aber auch als Anlass nutzen, um mit ihm einen kurzen Dialog zu führen. Natürlich muss wirkliches Interesse dahinterstecken. Sonst kommt es nicht zu diesem wunderbaren Moment gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit, der für die Sprachentwicklung so bedeutsam ist.“

Im Austausch mit Kolleginnen aus anderen Einrichtungen geht es Jenny auch um Zuspruch. „Traut euch, euch mit den kleinen Kindern auf den Weg zu machen“, spornt sie die Erzieherinnen aus den Kitas an, sich auf die Jüngsten einzulassen. „Mutet euch und den Kindern ruhig etwas zu, weil ihr euch und den Kindern das zutraut. Besucht Fortbildungen, sucht das Gespräch und lasst euch bestärken.“

Dies ist gerade in der Offenen Arbeit unerlässlich. Immer wieder muss man sich miteinander verständigen, auch im eigenen Team. „Denn man bekommt ein ganz anderes Bild von einem Kind, wenn man dessen Entwicklung nicht nur mit der Kollegin aus dem eigenen Bereich bespricht“, sagt Jenny. „Dadurch eröffnen sich andere Perspektiven auf ein Kind, das ich vielleicht in der letzten Zeit als zurückhaltend erlebt hatte. Und dann berichtet die Kollegin, die für den Außenbereich zuständig ist, dass das Kind dort ganz selbstbewusst agiert. Schon wird mein Blick differenzierter und weitet sich.“

In der Kita gibt es Raumzuständigkeiten. Die Erzieherinnen sind mindestens ein Jahr lang für bestimmte Bereiche zuständig, damit Struktur und Verlässlichkeit für die Kinder und das Team gesichert sind. „Selbstverständlich steht das ganze Haus allen Kindern offen“, betont Jenny, „aber sie wissen: Sonja finden wir im Werkraum und Jenny meist im Kleinkindbereich. Übrigens haben wir bewusst keine Nestgruppe eingerichtet, denn wir wollen die Kleinen nicht wegsperren. Je älter sie werden, desto mehr erschließen auch sie sich das ganze Haus. Sie entscheiden, ob sie einen Raum verlassen, und nicht die geschlossene Tür.“

Hat noch jemand Fragen zum Thema „Kinder ernst nehmen“? Nein. Ich auch nicht.

 

Für ein besseres EGO – Hintergrund der Artikelserie

In einem Kooperationsprojekt der GEW beginnt wamiki mit dem Heft #1/2014 eine Serie von Portraits über Erzieherinnen, Kitaleiterinnen und Sozialpädagoginnen. Wir wollen die ganze Breite der Profession zeigen. Es geht um Konzepte und Methoden, um Bildungsaufgaben und Entwicklungen, um Haltungen und Kompetenzen. Es geht um die Menschen, die mit den Kindern arbeiten. Was hat sie in den Beruf geführt? Was ist ihnen wichtig? Was muss sich ändern? Weiter lesen

Routinen überdenken

In einer Serie, die mit diesem Beitrag beginnt, beschreibt Conny Roth Methoden, mit denen Arbeits- und Teamprozesse strukturiert oder Konfliktsituationen gelöst werden können. Das im Folgenden beschriebene Verfahren dient dazu, im Team das Thema „Routinen“ zu besprechen. Weiter lesen…

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Mehr Wasser

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