Nackte Menschen in Lehrwerken – wo gibt es denn so was? Volker Döring weiß es.
„Ich bin das kleine Mädchen aus dem Apfelbuch“, erklärte meine 22-jährige Tochter im Jahr 2010 stolz einem Partybekannten. Der junge Mann absolvierte ein Referendariat als Biologielehrer. Da lag es nahe, auch über Schulerinnerungen zu sprechen – und über das legendäre Bio-Buch, das in den frühen 1990er Jahren im Verlag Volk und Wissen erschien. Beide kannten es aus ihrer Schulzeit, und nun unterrichtete der junge Lehrer damit.
„Apfelbuch“, sagte meine Tochter, weil auf der Titelseite ein saftiger, roter Apfel prangt. Aber das Besondere findet sich auf Seite 66: Fotos von nackten Menschen! Dreimal männlich – als Kind, als Jugendlicher und erwachsen – und dreimal weiblich. Unerhört für heutige Betrachter.
Aber damals, in der Nachwendezeit, wehte auch durch den Ost-Berliner Verlag Volk und Wissen ein aufklärerischer Geist. Man wollte den Kindern zeigen, was sie von jeher am meisten interessiert: Wie sehen Menschen eigentlich aus, wenn sie nichts anhaben? Diese sachlichen, harmlosen Abbildungen machen mittlerweile seit über 20 Jahren bei den Kindern Furore und helfen Biologielehrern zu erklären, dass Nacktheit ein natürlicher Zustand des Menschen ist.
Schon kurz nach der Entstehung dieser Bilder wurden die Fotos in den Lehrbüchern allerdings durch mehr oder weniger abstrahierende Zeichnungen ersetzt. Ein Entgegenkommen an die – sich zunehmend auch im Osten Deutschlands durchsetzende – Auffassung, dass Nacktheit entweder etwas Kommerzielles mit Tendenz zum Pornografischen sei, also keinesfalls in Schulbücher gehöre. Oder etwas Privates, das erst recht nicht abgedruckt werden sollte, kann oder darf.